Drei Monate Pforzheim statt New York. Im Zuge des internationalen Stipendienprogrammes „Designers in Residence“ begrüßt die Stadt jährlich drei Nachwuchsdesignerinnen und -designer aus der ganzen Welt im EMMA – Kreativzentrum. Im Frühjahr 2024 wird Pforzheim für drei Monate Wohn- und Arbeitsort für die drei Stipendiatinnen und Stipendiaten, die aus über 400 Bewerbungen aus 65 Ländern ausgewählt wurden. Das entspricht einem Zuwachs an Bewerbungen von rund 43 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
„Die Möglichkeit, drei Monate lang konzentriert an einem Projekt arbeiten zu können und dabei Werkstätten, Materialien und ein Netzwerk aus Expertinnen und Experten und Kreativschaffenden zur Verfügung zu haben, ist für Nachwuchsdesignerinnen und -designer sehr wertvoll. Das spiegelt sich auch in der großen Reichweite des Programms weltweit wider“, freut sich Almut Benkert, Fachbereichsleiterin Kreativwirtschaft beim Eigenbetrieb Wirtschaft und Stadtmarketing Pforzheim (WSP).
Vergangene Woche vergab die Jury, bestehend aus Louise Bennetts, Modedesignerin und Dozentin am Royal College of Art in London, Produktdesigner Romin Heide und Schmuckkünstler Jiro Kamata, die drei Stipendien für 2024: Alejandra Alarcón aus Mexiko/Finnland, Elisa Lutteral aus Argentinien/USA und Simon Rogalla aus Deutschland werden von April bis Juni 2024 im EMMA – Kreativzentrum arbeiten.
Inspiriert von seiner Zeit bei den Pfadfindern möchte der deutsche Produktdesigner Simon Rogalla verschiedene Seiltechniken als Verbindungselement für den Bau von Möbeln und anderen Objekten erforschen. „Bei den Pfadfindern lernt man, respektvoll in und mit der Natur zu leben. Unterkünfte werden beispielsweise immer so gebaut, dass sie rückstandslos wieder abgebaut und die Materialien wiederverwendet werden können. In meinem Projekt möchte ich das als Ausgangspunkt nehmen, um diese Bautechniken zu erforschen. Zudem werde ich über unseren Umgang mit Besitztümern und Objekten reflektieren und aufzeigen, wie Einrichtungsgegenstände geschaffen werden können, die nicht starr und fest, sondern flexibel und temporär sind“, erklärt Simon Rogalla.
„Aufbauend auf seinen ausgeprägten Designfähigkeiten erweist sich Simon als aufmerksamer Beobachter, dem es gelingt, Objekte maßzuschneidern, die funktional und zugänglich sind und genau das richtige Maß an ästhetischer Komplexität aufweisen. Sein Vorschlag "thread of time" zielt darauf ab, über starre Konzepte in Wohnumgebungen hinauszugehen. Flexible Lösungen, die heute dringend benötigt werden“, so die Begründung der Jury. Simon Rogalla studierte Produkt- und Holzdesign an der Fakultät für Angewandte Kunst Schneeberg. Aktuell arbeitet er als Freelancer in Nittenau, Bayern. Seine Arbeit fokussiert sich auf Produkte, die im Kern nachhaltig sind, aber auch durch Geschichten und eine harmonische Formensprache eine Verbindung zu den Menschen herstellen.
Die Designerin Elisa Lutteral aus Argentinien/USA erkundet Materialien als Träger von Macht. „Wir leben in einer Welt, die von Vorstellungen von Dauerhaftigkeit, Unsterblichkeit und Dominanz geprägt ist - einer Welt, die in Schichten von Zement und unnachgiebigen Metallstrukturen gehüllt ist. Eine Gesellschaft, die aus den Trümmern des Patriarchats entstanden ist und immer noch Angst davor hat, Stärke in der Vergänglichkeit, Flüchtigkeit und Weichheit zu sehen“, erzählt Lutteral. Mit ihren Arbeiten entwirft sie alternative Zukünfte, in denen die Grenzen weniger definiert sind, in denen "Macht" weich und abgerundet ist und die Strukturen Netzwerke sind, die im Gleichgewicht wachsen. Während ihres Stipendiums möchte sie Schmuckobjekte schaffen, die jeweils ein weiches und ein hartes Gegenstück haben.
Ihr poetischer Ansatz und starkes Portfolio überzeugten die Jury: „Elisas jüngste Arbeiten sind überraschende und nachdenkliche Objekte mit einem poetischen Konzept. Sie werfen Fragen zu aktuellen und vergangenen Konzepten der Gesellschaft auf, regen zum Nachdenken, aber auch zum Schmunzeln an. Ihr Projektvorschlag beschäftigt sich mit „Soft Power“ als Konzept für die Wahrnehmung zukünftiger Entwicklungen. So wie der menschliche Körper aus Haut und Knochen besteht, birgt die Kombination aus harten und weichen Materialien spannende Möglichkeiten im Schmuck“.
Elisa Lutteral studierte Modedesign an der University of Buenos Aires (FADU, 2015), wo sie auch als Dozentin arbeitete. 2023 absolvierte sie einen Master in Textildesign an der Parsons, The New School of Design in New York, wo sie aktuell lebt und arbeitet. Elisa erhielt das Sakata Orimono Stipendium in Hirokawa, Fakuoka, Japan. Ihre Arbeiten wurden unter anderem bei der Talente-Schau in München, in der L Space Gallery und bei PTM Contemporary, New York, ausgestellt. Sie wurde im Talking Textiles Magazin veröffentlicht und erhielt 2022 eine Anerkennung als Finalistin des Dorothy Waxman Textil Preises. Lutteral ist zudem Teil des Kollektivs „Colectivo de Palabreo“, das durch Events und Diskussionen traditionelle Herangehensweisen an Wissen und Materialkulturforschung hinterfragt.
Das dritte Stipendium erhält Alejandra Alarcón, die aus Mexiko stammt und aktuell in Finnland lebt und arbeitet. In ihrem Projekt untersucht sie soziale Dynamiken bei Tisch und erforscht neue sensorische Erfahrungen beim Essen durch Materialforschung und experimentelles Design. Beim Essen, ein von Natur aus intimer Vorgang, werden häufig Teller und Besteck in einer strukturierten Umgebung verwendet, die unsere Interaktion mit den Lebensmitteln steuern. Diese westlich geprägten Tischmanieren verhindern das Erleben des Essens mit allen Sinnen. „Durch die Auseinandersetzung mit anderen Kulturen, die das Essen bereits anders erleben, wie zum Beispiel beim Verzehr von Tacos mit bloßen Händen, untersuche ich die sozialen Aspekte des Essens und möchte herausfinden, wie wir die Idee des Tischgeschirrs überdenken können, um multisensorische und sinngebende Erlebnisse beim Essen zu schaffen“, erzählt Alejandra Alarcón. Während ihres Stipendiums möchte sie durch praxisbasierte Forschung die westlichen Essensregeln hinterfragen und Alternativen für das Lebensmitteldesign der Zukunft vorschlagen. „Alejandras Projekt ist eine spannende Kombination aus Produkt- und Interaktionsdesign, die das Essen als Nährboden kulturellen Austausches zelebriert. Bei ihrem ansprechenden und spielerischen Ansatz steht die Partizipation im Mittelpunkt, wir freuen uns sehr darauf, ihre Entwicklung mitzuerleben“, lautet die Begründung der Jury.
Alejandra Alarcón (she/her) ist eine interdisziplinäre zeitgenössische Designerin. Sie wurde in Mexiko geboren und lebt und arbeitet in Helsinki in Finnland. Ihre Arbeit ist eine Mischung aus persönlichen Erzählungen, Forschung und Materialerkundung. In jüngster Zeit konzentrierte sie sich auf den Bereich der Lebensmittel und des Designs in seinen verflochtenen sozialen, politischen, kulturellen und nachhaltigen Dimensionen. Alejandra absolvierte den MA in zeitgenössischem Design an der Aalto Universität (2023) und den BA in Industriedesign an der Universidad Iberoamericana Ciudad de México (2019). Ihre Arbeiten wurden bereits im Museo Universitario del Chopo, auf der Helsinki Design Week, der Dutch Design Week und im Museo Franz Mayer in Mexiko-Stadt ausgestellt.
Informationen zur Jury
Louise Bennetts ist Designerin, Forscherin, Produzentin und Dozentin, die sich auf Forschung und Entwicklung im Bereich zukünftiger Mode- und Textilsysteme sowie nachhaltige Innovation spezialisiert hat. Zu ihren Kunden gehören das interdisziplinäre Designstudio Toogood und die Modedesignerin Roksanda Illinčić. Von 2021 bis 2023 leitete sie die Forschungs- und Entwicklungsabteilung für das nachhaltige Textilinnovationsstudio ReWeave und arbeitete 2023 an der Entwicklung von Fine-Art-Textilien für die Tate Modern. Sie hat am Royal College of Art in London und am Edinburgh College of Art unterrichtet. Derzeit ist sie Ko-Kuratorin der State of Fashion Biennale 2024 in Arnheim, Niederlande.
Romin Heide studierte Produktdesign an der Hochschule Coburg mit Gastsemestern an der Kunsthochschule Berlin Weißensee und der ENSCI|Les Ateliers in Paris. Gemeinsam mit Hanna Litwin betreibt er seit 2012 das Designstudio BÜRO FAMOS in Berlin. Die Arbeit des Studios umfasst Projekte mit unterschiedlichsten Materialien in den Bereichen Möbel, Leuchten und Accessoires und wurde unter anderem mit dem Apolline Preis der Grassi Messe Leipzig und dem Red Dot Award ausgezeichnet. Das langjährige Engagement Romin Heides im Verband Deutscher Industrie Designer – VDID e.V. beinhaltete unter anderem den Mitaufbau des VDIDlab, der Nachwuchsorganisation des Verbandes. Seit 2015 nahm er zudem Lehraufträge an verschiedenen Hochschulen – unter anderem der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle – wahr sowie zuletzt eine Vertretungsprofessur an der Angewandten Kunst Schneeberg.
Jiro Kamata, 1978 in Japan geboren, lebt und arbeitet in München. Er studierte am Yamanashi Institute of Gemology and Jewelry Art in Kofu, Japan und an der Hochschule Pforzheim. Anschließend studierte er bei Otto Künzli an der Akademie der bildenden Künste in München. Seine Arbeiten wurden international ausgestellt und befinden sich in mehreren privaten und öffentlichen Sammlungen, wie zum Beispiel in der Pinakothek der Moderne in München, dem Grassi Museum für Angewandte Kunst, Leipzig, dem Cooper Hewitt Design Museum, USA oder dem Victoria & Albert Museum, UK.
EMMA – Kreativzentrum Pforzheim
Das EMMA – Kreativzentrum Pforzheim ist die zentrale Plattform für Pforzheims Kreative. In einem ehemaligen Jugendstilbad an der Enz gelegen, bietet das Kreativzentrum auf einer Fläche von 3.000 Quadratmetern Werkstatt- und Coworking-Arbeitsplätze, Ateliers, Büros und Ausstellungsflächen. Auch die Stadt selbst zeichnet sich durch eine lebendige Kreativszene mit Schwerpunkt auf dem Bereich Design aus. Zahlreiche Hochschulabsolventen, Existenzgründerinnen und-gründer, Freelancer und Unternehmen aus der Kreativwirtschaft arbeiten in Pforzheim und beleben den Standort.
„Designers in Residence“ wird unterstützt von der Sparkasse Pforzheim Calw, C. Hafner GmbH + Co.KG, dem Rotary Club Pforzheim-Schloßberg und der yellow design gmbh.