Was steckt alles dahinter, wenn ein elektronisches Gerät auf dem Müll landet? Wie können Textilien die Nachfrage nach stetiger Veränderung bedienen und trotzdem nachhaltig sein? Wie wird heutzutage Männlichkeit zur Schau gestellt? Mit diesen Fragen haben sich die diesjährigen De-signer/innen des internationalen Stipendienprogramms „Designers in Residence“ der Stadt Pforzheim in Kooperation mit dem Design Center Baden-Württemberg und der Hochschule Pforzheim beschäftigt. Seit April waren der chinesische Schmuckdesigner Xin Liu, die belgische Textildesignerin Leen Stoffels und die mexikanische Materialdesignerin Andrea De la Peña vor Ort im EMMA – Kreativzentrum Pforzheim, um intensiv an ihren Projekten zu arbeiten. Die Ausstellung im EMMA – Kreativzentrum Pforzheim, die am 30.06.2023 um 19 Uhr eröffnet wird, zeigt die Ergebnisse ihrer Arbeit.
„Wir freuen uns sehr, dass wir es auch in diesem Jahr mit der Unterstützung unserer Koopera-tionspartner und Sponsoren drei talentierten Designer/innen ermöglichen konnten, ihre Ideen zu verwirklichen. Die Rahmenbedingungen in Pforzheim sind hierfür ideal, wie uns die Rückmeldungen der Stipendiat/innen zeigen“, freut sich Almut Benkert, Leiterin des Fachbereichs Kreativwirtschaft beim Eigenbetrieb Wirtschaft und Stadtmarketing Pforzheim.
„Designers in Residence ist eine super Möglichkeit für Schmuckdesigner, wir haben viel Unter-stützung vom EMMA, der Hochschule und regionalen Unternehmen erhalten“, erzählt Xin Liu.
Für sein Projekt „codpiece everywhere“ hat sich Xin Liu mit einem historischen Accessoire be-schäftigt – der Schamkapsel (codpiece). Oft auffällig geschmückt oder gepolstert, was diese im 15./16. Jahrhundert ein Zeichen von Männlichkeit und Potenz. Die Schamkapsel ist längst nicht mehr präsent – aber auch heute noch gibt es bestimmte Kleidungsstücke oder Verhaltensweisen, mit der Männer ihre Männlichkeit zur Schau stellen. Xin Liu hat eine Kollektion zeitgenössischer Scham-kapseln geschaffen, die erforscht, wie Männer heutzutage das Bild von Männlichkeit in der Öf-fentlichkeit konstruieren. „Die Schamkapsel hatte einen hohen Symbolgehalt, und verriet viel über das Selbstbild des Trägers. Mittlerweile finden Männer andere Formen, sich auszudrücken und ihre Männlichkeit zu betonen, und das möchte ich mit meinem Projekt zeigen und mit einem humorvollen Blick beleuchten“, erklärt Xin Liu. So gibt es beispielsweise ein Objekt aus grauem Sweatstoff – eine Referenz an den Social Media Trend, graue Jogginghosen zu tragen, unter denen sich die Genitalien deutlich sichtbar abzeichnen. Ein weiteres Werk ist behangen mit Medaillen und hinterfragt, warum das Tragen dieser Abzeichen bei Männern akzeptiert wird, andere bunte, dekorative Elemente oder Schmuck aber allgemein als eher unmännlich angesehen werden. Eine mit zarten Pfauenfedern bedeckte Schamkapsel spielt darauf an, dass in der Tierwelt die Männchen reich verziert, bunt und auffällig sind, wohingegen diese Attribute bei den Menschen eher den Frauen zugeschrieben werden.
Das Projekt „Behind the tech-xtures“ der mexikanischen Materialdesignerin Andrea De la Peña visualisiert die Komplexität der Produktion von Elektroschrott und deckt die Geschichten dahinter auf: Elektroschrott ist derzeit die am schnellsten wachsende Art von Müll: Weltweit produzieren wir ca. 50 Millionen Tonnen Elektroschrott, wovon gerade einmal 17,4% ordnungsgemäß gesammelt und recycelt werden. Der Begriff "Elektro- und Elektronikschrott" wird meist für gebrauchte Elektrogeräte verwendet, obwohl diese nur etwa 2 bis 3 % des gesamten Elektroschrotts aus-machen. Der Großteil besteht aus Abfällen, die bei der Gewinnung, der Herstellung, dem Transport und der Produktion, die mit einem hohen Anteil an gefährlichen Chemikalien, Treibhausgasemis-sionen und Wasserverlust verbunden ist, anfallen.
Neben den Umweltschäden haben diese industriellen Prozesse und die Anhäufung von Elektroschrott auch gesellschaftliche Folgen, da sie sich auf die Menschen in der Nachbarschaft, bei denen es sich hauptsächlich um einkommensschwache Gruppen handelt, und auf den Lebensraum in der Nähe auswirken.
Durch Materialstudien, Installationen und Interviews mit Expertinnen und Experten zeigt „Behind the Tech-xtures“ die verschiedenen Phasen und Interaktionen zwischen den internationalen Akteuren bei der Produktion und Entsorgung elektronischer Geräte. „Ich habe die Zeit in Pforzheim sehr genossen, es war sehr schön, mit den anderen beiden Designer/innen Zeit zu verbringen und die Stadt zu entdecken“, erzählt sich Andrea De la Peña.
Die Textildesignerin Leen Stoffels möchte mit ihrem Projekt „Modular knitting“ ein Zeichen gegen die Wegwerf- und Fast Fashion-Kultur setzen. „Nachhaltigkeit und Umweltschutz waren schon immer eine große Motivation für meine Arbeit. Mit meinem Projekt wollte ich daher einen Weg finden, das Bedürfnis der Menschen nach Abwechslung und Innovation zu befriedigen und dennoch nachhaltig zu sein“, sagt Leen Stoffels. Durch die Einbeziehung verschiedener Strick- und Knüpftechniken entwickelte Leen ein modulares System, bei dem die Form und Dichte des Textils je nach der Funktion angepasst werden kann. Nachhaltigkeit spiegelt sich dabei nicht nur in der Materialwahl wider – die Stücke werden aus Merinowolle gestrickt -, sondern auch in der Gestaltung der Objekte und Kleidungsstücke. Leen entwirft bewusst tragbare und nutzbare Stücke, die nicht nur zeitlos, sondern auch modular und damit anpassbar sind und hofft, so den Verbrauch von Produkten zu reduzieren. Jedes Objekt kann mit Hilfe einer einfachen Anleitung und den einge-strickten Modulsystemen in Form und Passform verändern werden und sich in Kleidungsstücke, Inneneinrichtung oder andere Gebrauchsgegenstände verwandeln. Dies ist durch die Verwendung von Schlingen und Zugsystemen möglich. So entwarf sie beispielsweise eine Decke, die unter anderem in ein Kissen oder einen Schal umgewandelt werden kann, oder Stulpen, die an Armen, Beinen oder auch als Tasche in verschiedenen Größen getragen werden können. „Das Stipendium hat mir geholfen, meine Arbeit unabhängig weiterzuentwickeln und als Designerin zu wachsen“, freut sich Leen Stoffels.
Die Vernissage der Ausstellung „Designers in Residence“ findet am 30. Juni 2023 um 19 Uhr im EMMA – Kreativzentrum Pforzheim statt. Nach einer Begrüßung durch Almut Benkert wird Jurymitglied Prof. Karen Pontoppidan, Präsidentin der Akademie der Bildenden Künste in München, eine Ein-führung geben, und im Anschluss stellen die Designer/innen ihre Werke vor.
Die Ausstellung ist vom 1.-16.07.2023 donnerstags bis samstags von 14-19 Uhr und sonntags von 11-19 Uhr geöffnet.
Die Stipendiat/innen
Xin Liu ist in China geboren und aufgewachsen. Dort studierte er zunächst Industriedesign an der Jiangnan Universität in China. Anschließend absolvierte er den Schmuck-Bachelor an der Hoch-schule Pforzheim sowie einen Master in Schmuckdesign & Gold- und Silberschmieden an der Royal Academy of Fine Arts in Antwerpen, den er 2022 mit Auszeichnung abschloss. 2020 erhielt er das Stipendium „Pforzheim Revisited Berlin“ im Deutschen Technikmuseum Berlin.
Andrea De la Peña absolvierte einen technischen Abschluss in Grafikdesign am Instituto Politécnico Nacional und studierte anschließend Industriedesign am Centro de Diseño, Cine y Televisión in Mexiko-Stadt. Sie leitet das Projekt „Sustrato“, welches die Verwendung von Industrieabfällen aus Ananas in der Produktion von Biomaterialien erforscht und ist eine der Gewinnerinnen der No Waste Challenge von What Design Can Do. Ihre Arbeiten wurden in verschiedenen Museen und Aus-stellungen gezeigt, wie dem Franz Mayer Museum (2022), der Dutch Design Week (2019) und der Dubai Design Week (2019).
Leen Stoffels absolvierte ein Bachelor- sowie ein Masterstudium in Textildesign an der Königlichen Akademie für Schöne Künste (KASK) in Gent, wo sie sich auf Stricktechniken spezialisierte. Während ihres Studiums gründete sie ein Label für zirkuläre Mode. Sie erhielt eine Auszeichnung als eine der 25 besten Abschlussarbeiten in Flandern sowie einen Ecodesign Award 2022 für innovatives und zirkuläres Design.
EMMA – Kreativzentrum Pforzheim
Das EMMA – Kreativzentrum Pforzheim ist die zentrale Plattform für Pforzheims Kreative. In einem ehemaligen Jugendstilbad an der Enz gelegen, bietet das Kreativzentrum auf einer Fläche von 3.000 Quadratmeter Werkstatt- und Coworking-Arbeitsplätze, Ateliers, Büros und Ausstellungsflächen. Auch die Stadt selbst zeichnet sich durch eine lebendige Kreativszene mit Schwerpunkt auf den Bereich Design aus. Zahlreiche Hochschulabsolventen, Existenzgründerinnen und-gründer, Free-lancer und Unternehmen aus der Kreativwirtschaft arbeiten in Pforzheim und beleben den Standort.
„Designers in Residence“ findet in Kooperation mit der Hochschule Pforzheim und dem Design Center Baden-Württemberg statt und wird unterstützt von der Sparkasse Pforzheim Calw, C. Hafner GmbH + Co.KG, dem Rotary Club Pforzheim-Schloßberg und yellow design gmbh.